Montag, 24. August 2015

Sloterdijk about Myschkin


“Man könnte Myschkin als ein katalysatorisches Individuum bezeichnen, das durch seine Seinsweise, durch seine bloße Gegenwart, in den Anderen Erinnerungen wachrief an etwas, was in ihrem Leben unentwickelt geblieben war, Erinnerungen an frühes Wohlwollen und kindliche Vorurteilslosigkeit, Nachhall der fernen Tage, als uns die neidlose Bewunderung und die unbemühte Anteilnahme an den Sorgen der Anderen noch leichter fielen.”

Sloterdijk ><



Sonntag, 10. Mai 2015

René Polesch & Dirk von Lowtzow: Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte


“Das war sie also, die Geschichte von mir und Dingsda. Es war zu Ende. Das Begehren war weg und merkwürdigerweise auch die Realität. Ich hätte vielleicht erwartet, dass ich den Realitätssinn verliere, so wie früher, wenn deine Worte und Versprechungen und das was dann passierte, nicht mehr in den Rahmen dessen passte, was ich an Vorverständnis für Szenerien mitbringen konnte. Aber diesmal, und es wird unser letztes Mal gewesen sein, war es anders. Das, was ich die wirkliche Welt nenne, die, die wir eben so verstehn können, und auseinandernehmen und auch verbessern, ist in dem Moment kollabiert, und hat sich ganz und gar aufgelöst. Es gibt dich nicht mehr. Ich meine, begehrenstechnisch, und ich frage mich, wie du vor mir verschwinden konntest. Weißt du, zu sagen, dass du für mich gestorben bist, trifft es ja nicht. Damit wischt man ja nur das Problem weg und ignoriert, was da vor einem steht, das elementare phantasmatische Objekt. Weißt du, wenn jemand wie ich, so viele Geschichten zusammengetragen hat, über alle Zustände, in denen ich mit dir war, und diese Geschichten, wenn zwei Leute dann eines Tages in einem Raum stehen, und das alles hat nichts mehr mit ihnen zu tun... Ich muss dann an diesen Film denken, den ich neulich sah. Eine Frau geht auf ein Haus zu, und man hat den Eindruck, dass das Haus den Blick erwidert. So als hätten wir eine Ahnung, dass da jemand zurückguckt, der sich aber nicht zeigt. Und das ist das Entscheidende. Obwohl wir nicht hineingucken können, gibt es diese Tendenz, dass wir dahinter jemanden vermuten. Wir können den Blick einfach nicht als Objekt stehen lassen. Wir stellen uns immer vor, dass etwas da drin steckt! Und sei es nur ein Bauchredner. Weißt du, das machen wir eigentlich die ganze Zeit mit jedem, der uns begegnet. Und wir ahnen, dass diese Vorstellung auch uns selbst produziert. Ich hab mich sowieso immer gefragt, warum ich die Subjektivität an dir relevanter fand als meine eigene. Ich produziere die Subjektivität an dir. In unserem nicht-psychotischen Leben früher, war es so, dass egal was du da sagtest - ich hörte dich damals noch sprechen, und ich konnte dich auch sehen - egal was du da sagtest, ich hörte dich. Auch wenn ich deine Gedanken nicht verstand, was ich eigentlich nie tat, ehrlich gesagt. Aber ich bildete es mir ein, weil ich das eben an dir mache: Subjektivität konstruieren. Und dadurch lebe ich auch. Und jetzt wenn du vor mir stehst, sehe ich, dass sich dein Mund bewegt, ich höre auch Töne, aber das zerreißt plötzlich alles, dann geht mir all das verloren, was ich ansonsten bei jedem toten Gegenstand kann, ihn mit irgendwas zu füllen, zumindest mit irgendeinem Bauchredner. Und d a s ist ein psychotischer Moment. Nicht die Momente als wir in der Küche gemütlich voreinander saßen und anschließend mit Messern aufeinander losgegangen sind, das ist normal, das ist die Realität. Psychotisch ist es, wenn ich dich nicht mehr sehe. Wenn ich das nicht mehr machen kann, was grundsätzlich zwar auch psychotisch ist, aber unsere wirkliche Welt konstituiert: hinter allem einen Blick und eine Stimme zu vermuten. Und grundsätzlich hat das ja auch mit unserer eigentümlichen Erfahrung zu tun: Ich kann ganz tief in dich hineinsehn, wie in ein Tamagotchi. Ja, das ist ein altes Wort, ich geb es zu. Aber wenn es um Tiefe geht, müssen wir eben alte Worte bemühen. Ich seh dein Inneres ganz gut von außen, denn wenn ich in dich hineinsehen könnte, sähe ich gar nichts.”

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Donnerstag, 7. Mai 2015

Jean-Luc Nancy: Identity



„Freimütige (franche) Identität: eine klare, deutliche, unbezweifelbare, ja hervorstechende und sogar deklarierte Identität, offen und sich mit einer entschiedenen Ehrlichkeit darlegend. Um sich darzustellen, um sich darauf zu berufen ,wer‘ man ist – natürlich ein klein wenig jenseits von Zahlen und Codes der Verwaltungskontrolle der Identität –, bedarf es einer gewissen Freimütigkeit im Reden (franc-parler). Ebenso viel, wie es braucht, um dem anderen zu sagen, wie man ihn ‚sieht‘. Diese entschiedene Aufrichtigkeit ist nur möglich durch die Freiheit dessen, der sich derart identifiziert; frei (franc) im Sinne von freier Bürger (franc-bourgeois) oder Freischärler (franc-tireur), keiner Autorität unterworfen, keiner Vormundschaft, unabhängig und ehrlich (franc du collier), wie man früher sagte.
Weil er frei (franc) im letzteren Sinne ist, kann er es in der ersteren Bedeutung sein. Seine Unabhängigkeit beweist und verpflichtet seine Aufrichtigkeit, die keine Abewesenheit von Verstellung ist, sondern der Ausdruck davon, dass er befreit (affranchi) von jeder Abhängigkeit ist, von jeder Herkunft, jedem Bezug und jeder Treuepflicht.
Das bedeutet sicherlich auch, dass die Befreiung (affranchissement) ganz innerlich sein kann; dass ich mich selbst unter dem Zwang, der mir etwas entreißen will, bejahen kann. …“

Jean-Luc Nancy, Identität, Ch. 4 Freimütig (Franchement)



Dienstag, 17. Juni 2014